Call for Contributions Feministische Geo-Rundmail Nr. 88: Feministisch-geographische Wohnforschung / Feminist Geographies of Housing

*english version below*

Aktuell zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass Wohnraum ein Ort ist, an dem Machtverhältnisse – u.a. über Herkunft, Geschlecht, Klasse, aber auch Körper – auf mehreren Maßstabsebenen hergestellt werden: Die Finanzialisierung der Wohnungsmärkte verursacht eine Entkopplung der Grundstücks- und Immobilienpreise von Bedarfen an bezahlbarem Wohnraum. Prekär wird die Wohnsituation in der Folge vor allem für Menschen ohne Eigentum, mit geringen und unsicheren Einkommen sowie für Menschen, die allein das Haushaltseinkommen stemmen. Die Mehrfachbelastung von Care-Arbeiter*innen wird unsichtbar gemacht und gesamtgesellschaftlich in Kauf genommen. Die Wohnung ist unter der Corona-Pandemie noch häufiger zu einem „Erfahrungsort“ von Gewalt geworden. Schließlich sind das Wohnen in Sammelunterkünften, ohne eine ausreichende gesundheitliche Versorgung sowie das „Nicht-Wohnen“ in einer Zeit zu nennen, in der die Wohnung als Schutzraum fungieren soll. Die Beispiele verdeutlichen, dass im Wohnen Prozesse zur Herstellung sozialer Ordnungen ihre räumliche Vorbedingung ebenso wie ihre räumliche Entsprechung finden.

In der sozialwissenschaftlichen Forschung wird das Wohnen entweder unter politisch- ökonomischen Aspekten diskutiert oder ist konzeptionell mit Praktiken, Routinen, Erfahrungen, Beziehungen sowie dem Alltag im Inneren des Wohnraums verbunden. Ausgehend von der Parole „Das Private ist politisch“ und der Feststellung, dass der Wohnraum ein zentraler Ort sozialer Reproduktion ist, haben sich feministische Geograph*innen bereits vielfältig mit dem Wohnraum auseinandergesetzt. Anschließend an materialistisch-feministische Debatten der 1970er Jahre stellten sie dabei die zentrale Bedeutung vermeintlich privater Prozesse und Praktiken innerhalb des Wohnraums für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, aber auch für kapitalistische Wirtschaftsweisen heraus.

Mit der Geo-RundMail im Januar 2022 wollen wir dazu einladen, die Bedingungen der Wohnungsversorgung und Wohnen als gelebte Praxis zusammen zu denken. Besonders freuen wir uns über Beiträge, die marginalisierte Wohnerfahrungen, -praktiken, und Debatten thematisieren. Unten bzw. im Anhang findet ihr dazu weitere Inspirationen und Konkretisierungen.

Der Aufruf richtet sich an alle. Wohnforschung ist ein interdisziplinäres Feld und so freuen wir uns über Beiträge aus angrenzenden Disziplinen. Insbesondere möchten wir Studierenden die Möglichkeit geben, sich einzubringen. Ebenfalls willkommen sind aktivistische Beiträge. Zudem richten wir unseren Call explizit auch an Menschen, die nicht (mehr) mit der Wissenschaft verbunden sind – denn Erfahrungen mit Wohnen haben wir alle gemacht!

Es gibt kein fixes Wortlimit, wir schlagen 1500 – 2500 Wörter vor. Einreichungen sind in jeder Sprache möglich. Die Beiträge können gerne auch kreativ sein (z.B. Essays, Interviews, Comics, etc.). Bei Interesse meldet euch bitte bis Mitte November bei marlene.hobbs@uni- jena.de (sie/ihr), eva.isselstein@uni-bayreuth.de (sie/ihr) oder elisa.gerbsch@mailbox.tu- dresden.de (sie/ihr). Der Abgabetermin der Beiträge ist am 10.12.2021.

Weitere Fragen und Anregungen zum Call:

  1. Die Verknüpfung von Wohnungsmarkt/-politik und Wohnen als gelebte Erfahrung
  • Feministische Forschung hat den Anspruch dualistische Weltbilder zu infrage zu stellen. Mit welchen theoretischen Herangehensweisen können Dualismen wie housing/home, außen/innen, öffentlich/privat, männlich/weiblich, Produktion/Reproduktion als vermeintliche Pole in der Wohnungsforschung hinterfragt werden?
  • Welche Auswirkungen haben Wohnungsmarkt und Wohnungspolitik auf Wohnen als Zuhause? Was wären hier vielversprechende Herangehensweisen? Was gibt es schon?

2. Gesellschaftliche Machtstrukturen in alltäglichen Praktiken und Erfahrungen des Wohnens

  • Was ist Wohnen in den gegenwärtigen kapitalistischen Produktionsverhältnissen? Wie verändert sich unser Verständnis von Wohnen durch aktuelle Prozesse? z.B. Wie verändern digitale Technologien den Wohnraum? Was macht Corona?
  • Wie sind gesellschaftliche Vorstellungen des Wohnens institutionalisiert? Inwiefern spiegeln diese rassistische, sexistische, homophobe, ableistische u.a. Zuschreibungen wider? (z.B. staatliche Konzepte zur Wohnungslosigkeit, Wohnunterkünfte von migrantisierten Personen)
  • Wie materialisieren sich diese Vorstellungen (z.B. in Wohnungsgrundrissen, Kosten der Unterkunft) und wie beeinflussen sie alltägliche Praktiken des Wohnens? Welche Auswirkungen haben sie z.B. auf Geschlechterrollen, Sicherheit, Gewalt, well-being oder Care?

3. Wohnen als Widerstand

  • Was verstehen wir als Wohnungskampf? Wie kann das, was alltäglich im Wohnraum passiert, stärker als wohnungspolitischer Kampf/Widerstand gedacht werden?
  • Welche vergangenen Kämpfe und Widerständigkeiten im Wohnen sollten für uns heute sichtbarer werden/sollten wir kennenlernen? Was können wir aus historischen Wohnungskämpfen lernen? Z.B. Feministische Stadtkritik der 70er Jahre, die Häuserkämpfe der 70/80er, …
  • Welche Alternativen gibt es schon, welche Utopien erträumen wir uns? Welche Rolle spielt darin Gemeinschaft, Technik, Care-Arbeit…? (Überall, aber besonders hier freuen wir uns über kreative Beiträge in Wort und Bild!)

4. Wie forschen wir im Wohnraum?

  • Welche Methoden sind geeignet? Wie können z.B. Kartierungen zum Einsatz kommen?
  • Was bedeutet es, im „privaten“ Raum zu forschen? Wie erhalten wir Zugang? Wie können wir den besonderen Herausforderungen begegnen?
  • Wo forschen wir überhaupt über das Wohnen? z.B. Wohnbaugesellschaft, Mieter*innenverein, Tech-Firma, Senior*innenwohnheim, Nachbarschaft…

(English version)

Feminist Geographies of Housing

Currently we are witnessing how power relations are established – e.g., via race, gender, class, or body – in housing on several scales: The financialization of housing markets detaches real estate logics from the actual needs for affordable housing. As a result, the living conditions become precarious – particularly for people without property, with low and insecure incomes, and for sole wage earners. Furthermore, care workers are facing multiple strains, while their invisibility is socially accepted. Under the conditions of the Covid-19 pandemic the home has become even more visible as a site of violence. The home was supposed to be a shelter, which was not available for people in refugee accommodations or for people without any home. These examples illustrate that housing and dwelling are produced by social structures, while at the same time these social structures are embedded in housing and dwelling practices.

Within social sciences, housing studies are either dedicated to political-economic approaches or are conceptually linked to research of practices, routines, experiences, relationships and everyday life inside a living space. Drawing on the slogan „the private is political“ and the observation that living spaces are a central site of social reproduction, feminist geographers have addressed housing in a variety of ways. Following materialist-feminist debates of the 1970s, they highlighted supposedly private processes and practices within the home as central to the maintenance of social norms, but also for capitalist modes of production.

For the Geo-RundMail in January 2022, we want to invite you to consider the conditions of housing provision and home as a lived practice in conjunction with one another. We especially welcome contributions that address marginalized housing experiences, practices, and debates. Below/attached you will find further inspiration and specifications.

The call is open to everyone. Housing research is an interdisciplinary field. We thus welcome contributions from other disciplines. In particular, we would like to give students the opportunity to submit their thoughts, ideas or works. Also encouraged are activist contributions. Moreover, we explicitly address our call to people who are not (anymore) connected to academia – because we all have experiences with housing!

There is no fixed word limit, we suggest 1500-2500 words. Submissions are possible in any language. Contributions can take creative shapes such as essays, interviews, comics, etc.

If you are interested, please contact marlene.hobbs@uni-jena.de (she/her), eva.isselstein@uni-bayreuth.de (she/her), or elisa.gerbsch@mailbox.tu-dresden.de (she/her) by mid-November. The deadline for submissions is December 10th, 2021.

Further questions and inspirations:

  1. linking housing markets/politics and housing as lived experience
  • Feminist research aims to question dualistic worldviews. What theoretical approaches can be used to challenge and complicate dualisms such as housing/home, outside/inside, public/private, male/female, production/reproduction as supposed binaries in housing research?
  • What are the implications of the housing market and housing policy for housing as home? What could be promising approaches here?

2. power structures in everyday practices and experiences of housing

  • How can housing be understood within contemporary capitalist relations of production? How do current processes shape our understanding of housing? e.g., how do digital technologies change home and housing? What are the effects of the pandemic?
  • How are social conceptions of housing institutionalised? To what extent do these reflect racist, sexist, homophobic, ableist and other attributions? (e.g. governmental concepts of homelessness, migrant housing).
  • How do these conceptions materialize (e.g. in housing floor plans, costs of housing)? How do they influence everyday practices of housing? What impact do they have on gender roles, security, violence, well-being, or care?

3. housing as resistance

  • What do we understand by housing struggle? How can everyday experience and practices in the home be conceptualized as housing struggle/resistance?
  • Which past struggles and resistances in housing are relevant today? What can we learn from historical housing struggles, such as feminist urban critique of the 70s, the housing struggles of the 70s/80s, …
  • What alternatives already exist, what utopias do we dream of? What role does community, technology, care work… play in this? (Creative contributions very welcome here (and everywhere).)

4. how do we do research around the home?

  • What are suitable methods to study the home from a feminist perspective are suitable? How can mapping be used?
  • What does it mean to do research in a „private“ space? How do we gain access? How can we meet the particular challenges?
  • Where do we do research on housing anyway? e.g., housing association, tenants’ association, tech company, senior citizens’ residence, neighbourhood, …